Lovestory X

Schweigend gingen wir den kurzen Weg durch die Dünen. Ich konnte die salzige Luft der Nordsee schon riechen und merkte, wie ich mich langsam entspannte. Am Strand angekommen, schaute Manuel mich an: »Rechts oder links?«, wollte er wissen. »Keine Ahnung«, antwortete ich, »Viel mehr als 500 Meter in jede Richtung kenne ich leider nicht.« Manuel schaute sich um. »Da lang«, entschied er schließlich und zeigte nach links, wo es naturbelassener aussah.

»Augenblick!«, bat ich ihn, zog Schuhe und Strümpfe aus und krempelte die Hosenbeine hoch. »Gute Idee«, meinte er und machte es mir nach. Wir nahmen unsere Schuhe in die Hand und stapften für ein paar Minuten schweigend durch den Sand.

»Wolltest du nicht durch die Wellen laufen?«, fragte Manuel mich plötzlich. Er wartete aber gar nicht erst auf eine Antwort, sondern griff einfach nach meiner Hand und zog mich rasch zum Wasser. Seine Hand war warm, die Haut fühlte sich weich und seidig an. Eine wohlige Wärme strömte von seiner Hand erst in meinen Arm, dann in meinen ganzen Körper. Ich schloss meine Finger um seine und lief hinterher.

Als wir am Wasser ankamen, 'vergaßen' wir beide, unsere Hände wieder voneinander zu lösen. Wir standen Hand in Hand im Sand und ließen die auslaufenden Wellen um unsere nackten Füße spielen. Ich schloss die Augen und atmete die salzige Luft ein, fühlte, wie der Wind über mein Gesicht strich. »Es ist so schön«, flüsterte ich zufrieden.

»Komm, lass uns ein wenig gehen«, holte Manuel mich nach einigen Minuten aus meinen Träumereien zurück. Wir gingen einige Minuten schweigend durch die auslaufenden Wellen, hielten uns weiterhin die ganze Zeit an den Händen. Mehr und mehr fühlte ich mich in Manuels Nähe wohl und geborgen.

»Ich werde aus dir nicht schlau«, meinte Manuel nach einer Weile. »Mal bist du der größte Kotzbrocken im gesamten Universum, mal der liebste, witzigste, charmanteste Mann der Welt. Im einen Moment könnte ich dich umbringen, im nächsten würde ich dich am liebsten nie wieder gehen lassen.« Ich schwieg betreten, wusste ich doch, dass er absolut Recht hatte. Er fuhr fort: »Ich habe Angst davor, meine Gefühle für dich zuzulassen. Ich habe Angst, mich vollkommen in dich zu verlieben, weil ich nicht weiß, wann du das nächste Mal wieder von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde mutierst und mein Herz in Stücke reißt.« Aber er ließ meine Hand nicht los, während er mir beim Gehen seine Gefühle für mich offenbarte. Und ich versuchte, das eben gehörte zu verarbeiten: Wenn er Angst hat, sich 'vollkommen' in mich zu verlieben, heißt das etwa, er...? Ich traute mich nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

»Eigentlich kennen wir uns schon seit letztem Jahr«, fing Manuel nach einer Weile an zu erzählen. »Ich war damals neu in der Mannschaft, hatte gerade mal vor zwei Monaten mit Volleyball angefangen. Aber sie haben mich gleich mit zum Turnier genommen - ich würde dazugehören, also würde ich auch mitfahren, so einfach war es für sie. Und als wir uns eingespielt hatten, ist mir beim Baggern der Ball abgerutscht und dir an den Kopf geflogen.« Ich beschloss, ihm nicht zu erzählen, dass Kai mir diese Geschichte bereits auf der Rückfahrt von Delft erzählt hat, ich wollte ihn nicht unterbrechen. Also hörte ich ihm einfach nur zu.

Er sprach leise weiter: »Ich hatte mich schon damals in dich verliebt, als ich dir den Ball an den Kopf geknallt hatte. Man, war mir das peinlich! Ich war am Heulen, weil ich mich so unsagbar blöd bei meinen Traummann eingeführt hatte. Aber die anderen haben mich wieder aufgebaut und meinten, ich sollte auf der Party zu dir gehen und mich bei dir entschuldigen, dann könnte ich dich sicher näher kennen lernen.« Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Nachdem du mich zum zweiten Mal an diesem Tag zusammengebrüllt hattest, bin ich heulend davon gelaufen.«

Ich erinnerte mich schmerzhaft an diesen Abend und wünschte, ich könnte ihn ungeschehen machen.

»Anschließend habe ich mich betrunken wie noch nie in meinem Leben. Aber ich habe es nicht vertragen und mich in der Wohnung meines Gastgebers übergeben«, beendete er seine Schilderung des bewussten Abends.

»Es... es tut mir so Leid«, flüsterte ich. Eine Träne lief mir die Wange runter. Ich schämte mich für mein Verhalten, ich schämte mich dafür, was ich diesem Menschen angetan hatte. Ich hatte das Gefühl, Manuel würde meine Hand leicht drücken, als ob er mich trösten wollte und hoffte, das war nicht nur Wunschdenken.

»Als Lisa und ich neulich in Delft zu ihrer Freundin zum Essen gegangen sind, hatte ich dich gleich erkannt und wäre am liebsten sofort wieder weggelaufen«, fuhr er leise fort. »Als du mich dann aber freundlich begrüßt hattest, war ich mir nicht sicher, ob du mich wiedererkannt hattest. Schließlich hatte ich mich in dem einen Jahr doch ein wenig verändert.«

»Das kann man wohl sagen«, warf ich ebenso leise ein, »Ich hatte allerdings das Gefühl, dich zu kennen - deine Augen, in denen ich jedes Mal versinken könnte, kamen mir bekannt vor. Aber ich wusste wirklich nicht, wo ich dich schon einmal gesehen hatte.«

Manuel drückte meine Hand, als er hörte, dass ich jedes Mal in seinen Augen versinken würde. Dieses Mal war ich mir sicher. Dann fuhr er fort: »Als du dann beim Essen erzählt hast, was im vorigen Jahr passiert war - vor mir, einem vermeintlich Fremden - und dabei schonungslos mit dir selbst ins Gericht gegangen bist, war ich schwer beeindruckt. Ich nahm an, du hättest wohl im letzten Jahr eine harte Zeit gehabt und hoffte, dass du normalerweise so bist, wie ich dich an dem Abend beim Essen kennen gelernt hatte.« Er machte eine Pause, bevor er weitersprach: »Aber ich war mir nicht sicher. Ich dachte, ich frage einfach mal deinen Freund, was ich von dir halten sollte. Daher bin ich mit Kai dann bei der ersten sich bietenden Gelegenheit spazieren gegangen, um von ihm mehr über dich zu erfahren.«

Manuel hörte für einen Augenblick auf zu erzählen. Dann redete er weiter: »Ich hatte natürlich gemerkt, dass Kai an mir interessiert war, der hat mich beim Essen ja geradewegs mit den Augen ausgezogen. Aber als ich ihm vor der Halle als erstes erzählt hatte, dass ich derjenige bin, der dir im letzten Jahr den Ball an den Kopf geknallt hatte, merkte er sofort, dass ich nicht an ihm, sondern an dir interessiert war. Kai hatte dich in den höchsten Tönen gelobt und meinte, es könnte durchaus sein, dass du an mir interessiert sein könntest, es hätte beim Abendessen zumindest den Anschein gehabt. Und dass du solo bist, hattest du ja beim Essen erzählt.« Manuel hielt noch immer meine Hand. Wir hatten uns bisher nicht wieder losgelassen, fiel es mir auf. Ich war darüber unendlich erleichtert.

Nach einer Weile fing jetzt ich an zu erzählen: »Als ich dich an dem Abend bei Anna gesehen hatte, war ich sofort hin und weg. Du hast so verdammt gut ausgesehen. Obendrein warst du noch charmant, witzig und intelligent. Ich habe mich Hals über Kopf in dich verliebt. Allerdings habe ich auch gesehen, dass Kai scharf auf dich war. Und Kai kriegt normalerweise jeden, den er will.« Ich blieb eine Weile still, bevor ich weiter erzählte: »Am nächsten Morgen sehe ich dann, wie du mit Kai spazieren gehst. Ihr kommt zurück, ich sehe, wie ihr zusammen lacht und du Kai einen Kuss gibst. Manuel, ich bin in dem Moment fast gestorben vor Eifersucht«, gestand ich ihm leise. »Und aus deinem Kuss auf seine Wange ist dann in meinem Kopf eine heftige Knutscherei mit Kai geworden. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass zwischen euch etwas laufen würde.«

Manuel schüttelte den Kopf. »Jetzt verstehe ich auch, warum du mich so kalt abgefertigt hast, als ich zu dir gekommen bin.« Wir gingen weitere Minuten schweigend den Strand entlang, aber immer noch Hand in Hand.

Er fing wieder an zu reden: »Es hat mir auch dieses Mal verdammt weh getan. Ich hatte wieder einmal allen Mut gesammelt und wollte dir sagen, dass ich mich in dich verliebt hatte. Und dann bekomme ich so eine Abfuhr, bevor ich überhaupt irgendetwas davon sagen konnte.«

Ich schluckte und erzählte Manuel den Rest meiner Delfter Erlebnisse: »Kai ist über Nacht fort gewesen. Ich dachte, ihr beiden wärt zusammen und habe mich fast die ganze Nacht bei Anna ausgeheult. Am nächsten Morgen hat Kai mir dann gesteckt, dass er sich in den Franzosen verliebt hat, den er vom vorigen Jahr kannte. Ich hätte dir gerne erklärt, was mit mir los war und mich für meinen Ausbruch entschuldigt, aber du warst nicht beim Brunch. Auf der Rückfahrt hat Kai mir erst einmal den Kopf gewaschen, wie ich dich denn behandelt hätte. Nachdem er aber mitbekommen hatte, dass ich verliebt und eifersüchtig war, hat er mir die ganze Geschichte erzählt. Ich habe den Rest der Rückfahrt nur noch auf dem Beifahrersitz gesessen und geheult. Anna hat Lisa für mich gefragt, ob sie deine Telefonnummer oder deine Adresse hätte, aber die hatte sie nicht. Ansonsten hätte ich mich sofort ins Auto geschmissen und hätte bei dir vor der Tür gestanden.«

Erstaunt sah Manuel mich an: »Das hättest du wirklich gemacht?«

»Ja!«, sagte ich nur und schaute ihm in die Augen.

Während der ganzen Zeit waren wir immer weiter Hand in Hand den Strand entlang gelaufen. Manuel blieb nun stehen. Er ließ meine Hand los und legte dafür seine Arme um mich. »Warum muss das mit uns so kompliziert sein?«, seufzte er und sah mich an. Ich legte ebenfalls meine Arme um ihn und meinte: »Jetzt kann es eigentlich nur noch besser werden, oder?« Fast unhörbar flüsterte ich hinterher: »Ich wünsche es mir jedenfalls.« Manuel legte seinen Kopf auf meine Schulter und streichelte mein Haar. »Ich auch«, hörte ich ihn ganz leise sagen. Wir hielten uns einfach nur fest und genossen die Nähe des anderen, spürten die Wärme des anderen Körpers am eigenen.

Plötzlich schreckten wir auf: Es begann zu regnen. Zunächst waren es nur ein paar Tropfen, aber binnen weniger Sekunden wurde daraus ein richtiger Wolkenbruch - es kam deutlich mehr Wasser von oben als vorhin unter der Dusche. Obwohl wir so schnell wie möglich zum Auto zurück liefen, waren wir durch und durch nass, als wir es nach zehn Minuten endlich erreichten. Ich schloss Manuel die Beifahrertür auf und lief ums Auto, um auf der anderen Seite einzusteigen.

»So steige ich aber nicht ins Auto«, rief Manuel mir zu. »Du bekommst die Sitze doch nie im Leben wieder trocken«, ergänzte er und zog sich erst sein Hemd aus, anschließend auch die Hose. Er setzte sich nur mit seiner Unterhose bekleidet auf den Beifahrersitz, wrang seine nassen Klamotten aus und warf sie hinter den Sitz. Dann zog er die Beine ins Auto und schloss die Tür. Mittlerweile hatte ich das selbe gemacht. Ich drehte die Lehne vom Fahrersitz flach, langte nach hinten und klappte einen Rücksitz um. Dann konnte ich unsere Sporttaschen aus dem Kofferraum holen, ohne das Auto verlassen zu müssen. Ich gab Manuel seine Tasche und öffnete meine, um ein Handtuch rauszuholen, denn auch wenn unsere Handtücher noch feucht vom Duschen waren, so waren wir selbst doch noch um einiges nasser.

Wir fingen an, uns abzutrocknen. Ich weiß nicht mehr, wie es passierte, aber plötzlich fingen wir an, uns gegenseitig abzutrocknen. Und kurz darauf drehte Manuel ebenfalls die Sitzlehne flach. Zum Glück beschlugen die Scheiben innerhalb kürzester Zeit, denn zwei bis auf die Unterhose nackte Männer, die auf einem öffentlichen Parkplatz wild im Auto knutschen - das dürfte auch die bekanntermaßen große Liberalität der Niederländer überfordern, von unseren danach folgenden Aktivitäten ganz zu schweigen.

So plötzlich wie der Regen anfing, so plötzlich hörte er nach einer guten Stunde auch wieder auf. Manuel und ich lagen mittlerweile vollkommen nackt im Auto, streichelten uns zärtlich und sahen uns verliebt in die Augen. Ich räkelte mich, gab ihm einen Kuss und setzte mich auf: »Wir können hier nicht ewig bleiben«, bedauerte ich und schaute missmutig nach hinten zu den nassen Klamotten.

»Trainingsanzug!«, kam es nach kurzem Nachdenken von Manuel, der anscheinend ebenso wie ich der Meinung war, besser nicht wieder in die nassen Klamotten zu steigen. »Gute Idee!«, stimmte ich erleichtert zu, und wir zogen unsere Trainingsanzüge an.

»Und jetzt?«, wollte Manuel wissen, als wir damit fertig waren. »Ich habe 'zuhause' noch eine Jeans und ein Hemd«, meinte ich. »Wie sieht das bei dir aus?« »Ich habe auch noch was zum Wechseln dabei«, antwortete Manuel, »Lass uns fahren.«

Ich suchte einen Lappen, um die beschlagenen Scheiben zu wischen. Manuel reichte ihn mir - er hatte ihn in der Tasche an der Beifahrertür gefunden. Ich ließ den Motor an und stellte das Gebläse auf die höchste Stufe. Dann begann ich, die beschlagenen Scheiben abzuwischen. Manuel nahm mir den Lappen ab und wischte auf seiner Seite. Als die Scheiben wieder durchsichtig blieben, fuhren wir los.

»Wie geht es jetzt mit uns weiter?«, stellte ich die Frage in den Raum, die mich die letzten Minuten beschäftigte, als wir an einer roten Ampel halten mussten.

»Von meiner Stadt zu deiner kann man es mit dem Auto in einer Stunde schaffen«, sagte Manuel leise.

»Dann kann man auch mal in der Woche fahren und muss nicht immer bis zum Wochenende warten«, bemerkte ich.

»Das wäre schön«, meinte er zaghaft und sah in meine Richtung.

»Es wird schön!«, versprach ich, schaute ihm in die Augen und streichelte sein Knie mit meiner Hand. Manuel strahlte mich glücklich an.

Wir erreichten nach einiger Zeit die Stelle, an der ich Manuel an diesem Morgen aufgelesen hatte. Er schaute an mir vorbei zur Bushaltestelle: »Das hätte ich mir heute Morgen nie träumen lassen, dass der Tag so verläuft«, meinte er versonnen.

»Ich habe übrigens genau das gleiche Auto wie du - einen Civic in Vienna Blue«, sagte er plötzlich.

»Hast du deshalb heute Morgen so interessiert in meine Richtung gesehen?«, kombinierte ich.

»Stimmt«, bestätigte er meine Vermutung, um mich dann zu seiner Unterkunft zu lotsen: »Die nächste Straße links musst du übrigens rein.«

Während Manuel sich umzog und seine nassen Klamotten aufhing, setzte ich mich ins Wohnzimmer und wartete. Nach einer Weile kam er zurück. Wir gingen zum Auto und fuhren zu meiner Unterkunft, wo ich mich ebenfalls umzog. Manuel saß derweil auf dem Bett und sah mir zu.

»Ich bin wirklich froh, dass du nach dem Spiel mit mir gefahren bist«, sagte ich, während ich das Hemd zuknöpfte. »Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet.«

»Weißt du eigentlich, dass du mich heute ziemlich beeindruckt hast?«, fragte Manuel nach einer kurzen Pause.

»Wieso das denn?«, entgegnete ich erstaunt.

»Zuerst hast du mich nicht im Regen stehen lassen, obwohl es dir sicher unangenehm war, auf mich zu treffen. Dann hast du bei der Bäckerei das Radio laufen lassen, als ich im Auto gewartet hatte«, zählte er auf. Ich hatte nicht gedacht, dass ihm die kleine Geste mit dem Radio auffallen würde, geschweige denn, dass sie ihm etwas bedeuten würde. »Du hast mir einen Kaffee mitgebracht, mir für das Turnier viel Erfolg gewünscht und warst unser lautester Fan beim Endspiel. Lauter Kleinigkeiten, die aber alle wie selbstverständlich kamen. Also beschloss ich, dir trotz allem eine letzte Chance zu geben, schließlich passte das alles zu Kais hoher Meinung von dir. Allerdings war ich noch nicht völlig überzeugt und habe dich nach dem Spiel einfach ein wenig länger warten lassen. Als du nach über einer halben Stunde immer noch da warst und dich nicht über die lange Wartezeit beschwert hast, hattest du bei mir gewonnen. Und sag bitte nicht, du hättest nicht gewinnen wollen - dafür standen wir zu eng zusammen, nachdem du gestolpert warst.« Ein freches Grinsen in meine Richtung begleitete den letzten Satz.

»Das war dann wohl eine Win-Win-Situation«, lästerte ich zurück, »Schließlich wurde ich von dir ebenfalls mit harten Tatsachen konfrontiert.« Ich durfte danach feststellen, dass Manuel wirklich süß aussieht, wenn er rot wird. Und er wird noch süßer, wenn man ihm sagt, wie niedlich sein rotes Gesicht ist...

Plötzlich meldete sich mein Magen unüberhörbar. »Ich habe auch Hunger«, kommentierte Manuel das laute Knurren mit einem breiten Grinsen. »Wo gehen wir hin?«

Wir fuhren zurück ins Zentrum und suchten uns ein ruhiges, gemütliches Restaurant. Während des Essens erzählte Manuel mir von dem Dorf in Meck-Pomm, in dem er aufwuchs, wo selbst mehr als 10 Jahre nach der Wende die Häuser immer noch so trostlos und schmutzig-grau aussehen, als ob die DDR nicht schon seit Ewigkeiten Geschichte wäre, von seiner Lehre im Stralsunder Unternehmen, das pleite ging und seiner darauf folgenden Entscheidung, jetzt doch noch zu studieren. »Meine Eltern waren zwar dagegen«, meinte er, »Aber ich wollte einfach nur fort. Fort von der Enge, fort von der Trostlosigkeit, fort von der Spießigkeit. Fort von meinem bisherigen Leben. Also beschloss ich, nicht nur zu studieren, sondern auch in eine andere Gegend zu ziehen. Und so landete ich in einer Unistadt im Westen.« Im Gegenzug erzählte ich ihm von meiner Kindheit in einer Hansestadt, ebenfalls im Westen.

»Wie kommt es eigentlich, dass du dich im letzten Jahr so verändert hast?«, wollte ich danach wissen und sah ihn neugierig an. »Oh je, das ist eine lange Geschichte«, seufzte er. »Vielleicht erzähle ich sie dir ein anderes Mal. Für heute nur so viel: Meine besten Freunde während des Coming Outs hießen Lindt, Sprengel, Niederegger und Haribo. Ich bin in den zwei Jahren vor meinem Umzug aufgegangen wie ein Hefekloß. Und nach dem Umzug habe ich viel Sport getrieben und eiserne Diät gehalten.« Ich beschloss, nicht weiter nachzufragen, auch wenn ich spürte, dass dahinter noch mehr steckte. Er schien im Augenblick nicht weiter darüber reden zu wollen. Daher wechselte ich das Thema: »Wie bist du eigentlich zum Volleyballspielen gekommen?«

Als wir dabei waren, uns gegenseitig unsere Volleyball-Karrieren zu erzählen, stieß ich aus Versehen meine Apfelschorle um. Zum Glück war das Glas bereits fast leer und das meiste blieb auf dem Tisch, aber einiges lief trotzdem auf meine Jeans. Ich wurde rot und murmelte, dass ich schnell mal verschwinden müsse. Mit Wasser und Papierhandtuch versuchte ich dann, den Fleck in der Hosenmitte rauszuwaschen. Das Ergebnis sah aus, wie es zu erwarten war: Der Fleck roch zwar nicht mehr nach Apfelsaft, dafür aber war er noch größer geworden. Hektisches Tupfen mit weiteren Papierhandtüchern half da auch nicht mehr viel. Ich resignierte und ging zurück.

Manuel bemerkte das Ergebnis meiner Bemühungen. »Weißt du, wie das aussieht?«, prustete er mich an. Ich sah an mir herunter. »Ich hab mir vor Angst in die Hosen gemacht, dass du nicht mehr da bist, wenn ich zurückkomme«, frotzelte ich ihn mit einem zärtlichen Blick an. Sein Lachen verstummte und er schluckte verlegen. Aber er gewann schnell seine Fassung zurück: »Hoffentlich glaubst du mir, dass ich dich nicht verlassen werde. Ansonsten solltest du wohl besser immer ein paar Jeans in Reserve dabei haben«, kam es rotzfrech zurück.

Irgendwann waren wir schließlich beim Erzählen unserer Coming-Out-Geschichten angekommen, als ich zufällig auf meine Uhr sah: »Mein Gott, so spät ist es schon?«, entfuhr es mir überrascht. Manuel schaute nun ebenfalls auf seine Uhr: »Sitzen wir hier wirklich schon seit fast drei Stunden?«, fragte er ungläubig. »Es scheint so«, antwortete ich, »Aber die Zeit mit dir ist wie im Flug vergangen.« Seine Hand suchte im Schutz der Tischdecke verstohlen nach meiner. »Stimmt, mir kam es auch kürzer vor«, sagte er und drückte meine Hand.

»Lass uns zahlen und zur Party gehen!«, schlugen wir gleichzeitig vor. Zuerst schauten wir uns verblüfft an, dann mussten wir darüber lachen: »Zwei Deppen, ein Gedanke!«, meinte Manuel trocken. Mir fiel ein, dass Oma in so einer Situation immer behauptete, nun würde man auch in einem Jahr noch miteinander reden. Dieser Gedanke gefiel mir ausgesprochen gut und ich beschloss, Oma einfach mal zu glauben.

Nach kurzer Fahrt kamen wir bei der Party an. Wir zeigten unsere Turnierpässe am Eingang vor und gingen rein. Ich hatte allerbeste Laune, schließlich war Manuel bei mir. Wir tanzten, lachten, küssten uns und schauten uns verliebt in die Augen - kurz gesagt, die Party war nicht nur phänomenal, sondern die beste Party, auf der ich jemals war.

Nach etlichen Tänzen zog Manuel mich von der Tanzfläche: »Komm, ich will dir jemanden vorstellen. Da hinten ist Uwe, mein bester Freund.«

Uwe entpuppte sich als der Mann, mit dem Manuel am späten Nachmittag aus der Halle gekommen war. Als er mich sah, verfinsterte sich sein Gesicht, bis er entdeckte, dass Manuel mich an der Hand hielt. Erstaunt sah er Manuel an. »Ihr scheint euch ausgesprochen zu haben«, stellte er schließlich fest.

»Ja«, antwortete Manuel, »Wir waren nach dem Turnier am Strand spazieren.«

»Bei dem Regen?«, rief Uwe erstaunt aus. Manuel und ich wurden rot, als wir daran dachten, wie wir die Regenzeit verbracht hatten. Uwe sah uns abwechselnd an. Ein schmutziges Grinsen erschien nach einer Weile auf seinem Gesicht. »Ich glaube fast, ihr wart nicht nur spazieren«, meinte er süffisant. Dann sah er uns erneut der Reihe nach an: »Ihr seht aus, als ob ihr eine Abkühlung braucht, eure Köpfe glühen ja geradezu. Lasst uns was trinken«, schlug er vor.

Wir gingen rüber zum Tresen. Ich bestellte mir eine Cola, Manuel und Uwe bestellten sich ein Wasser. Wir nahmen unsere Getränke und suchten uns eine etwas ruhigere Ecke. Manuel sah mir plötzlich ins Gesicht, dann auf mein Glas. Unvermittelt nahm er mir das Glas mit der Cola aus der Hand und gab mir dafür sein Wasser:

»Lass uns besser tauschen. Wasser macht keine Flecken, schließlich bist du dieses Wochenende ein wenig ungeschickt - erst das Schuhband und vorhin auch noch die Apfelschorle..«, war sein Kommentar dazu.

Aber das Lachen verging ihm sofort: Jetzt nahm Uwe ihm die Cola weg und drückte Manuel dafür sein Wasser in die Hand. »Du und Cola? In Peters Nähe? Und was ist dann mit seinem Hemd?«, frotzelte Uwe ihn an.

»Ich kann ja mal fragen, ob es Schnabeltassen gibt«, bot ich scheinheilig an, »Soll ich zwei oder besser gleich drei Stück mitbringen?«

»Das kann ja noch was werden, euch zwei auf einen Haufen kann doch kein normaler Mensch mehr ertragen«, seufzte Uwe gespielt. »Übrigens, was war das mit der Apfelschorle?«, wollte er wissen. Manuel erzählte die Geschichte. Wir mussten alle drei heftigst lachen. Das Eis schien gebrochen.

»Lauft nicht weg, ich muss mal für kleine Königstiger«, meinte Manuel irgendwann später und war auch schon verschwunden. Bei jedem anderen hätte ich über diesen abgedroschenen Spruch gestöhnt, aber bei meinem Schatz fand ich ihn einfach nur süß. Wir sahen Manuel hinterher.

»Er sieht wirklich glücklich aus«, stellte Uwe verwundert fest und sah mich mit einem ernsten Gesicht an: »Ich hoffe, du tust ihm diesmal nicht wieder weh.« Er trank einen Schluck, bevor er fragte: »Wie wird es mit euch weitergehen?«

»Wir wollen es beide miteinander versuchen«, antwortete ich und erzählte Uwe von unserer Unterhaltung auf der Fahrt vom Strand. »Manuel ist wirklich ein phantastischer Mann und ich wünsche mir ehrlich, dass wir es schaffen«, schloss ich meine Erzählung.

»Das wünsche ich mir auch«, kam es leise von hinten. Manuel war unbemerkt zurück gekommen und hatte das Ende meiner Erzählung mitgehört. Er trat hinter mich und nahm mich von hinten ganz fest in die Arme. »Lass uns gehen«, flüsterte er in mein Ohr, »Ich habe Gerald, meinen Gastgeber, gefragt, es ist in Ordnung, wenn du bei mir schläfst.«

Wir haben wenig geschlafen in dieser Nacht, sondern gekuschelt, uns gestreichelt, viel miteinander geredet und uns verliebt in die Augen gesehen. Ich war unendlich glücklich und fühlte mich in Manuels Gegenwart so geborgen wie bei keinem anderen zuvor. Ihm ging es ebenso, das konnte ich spüren.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, strahlte die Sonne durchs Fenster, direkt auf Manuels Gesicht. Er sieht wie ein Engel mit einem Heiligenschein aus, dachte ich und schaute ihn einfach nur verliebt an. Nach einer halben Stunde räkelte er sich und öffnete verschlafen erst ein Auge, dann das andere. Ich schmolz dahin, so süß sah er aus. »Guten Morgen!«, wisperte ich und gab ihm einen zärtlichen Kuss. »Der erste Morgen von hoffentlich ganz, ganz vielen mit dir..«, erwiderte er mit einem lieben Lächeln und zog mich zu sich runter. Wir kuschelten uns aneinander und blieben noch ein wenig länger im Bett liegen, es war einfach zu schön, um sofort aufzustehen.

Plötzlich begann Manuel zu kichern. Er hörte nicht mehr auf, im Gegenteil, es wurde schlimmer und schlimmer. Schließlich prustete er raus:

»Eigentlich meinten meine Leute letztes Jahr andauernd zu mir, ich sollte endlich mal jemanden anbaggern.«

Ich fiel in sein Lachen ein. »Etwas ruppig war es allerdings schon, wie du mich 'angebaggert' hast«, konnte ich mir nicht verkneifen.

Er musste auch grinsen. »Zum Glück habe ich das Baggern in der Zwischenzeit gelernt«, meinte er und schaute tief in meine Augen. Dann sagte er mit ernster, belegter Stimme: »Schließlich möchte ich niemals wieder jemanden anbaggern.«

Ich wusste, was er mir damit sagen wollte und nahm ihn zur Antwort einfach nur ganz fest in den Arm. »Das möchte ich auch nicht«, hauchte ich und küsste ihn zärtlich.

werg

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